Wählergedächtnis ist Kurzzeitgedächtnis: Politik für Reiche

Wählergedächtnis ist Kurzzeitgedächtnis: Politik für Reiche

Die Wählerschaft honoriert die politisch betriebene Tabuisierung der sozialen Ungleichheit. Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer wurde bekannt, als er mit seinem Team im Jahr 2017 im Auftrag der Bundesregierung eine Studie für den Armuts- und Reichtumsbericht erstellte. Die Forscher fanden heraus, dass die Interessen der Reichen in der Politik deutlich mehr Gehör finden als die Interessen der Armen, insbesondere bei Themen, die die soziale Ungleichheit betreffen: „Wirtschaft und Finanzen“ sowie „Arbeit und Soziales“. Die Ergebnisse waren derart brisant, dass die Bundesregierung Schäfers Textpassagen aus dem Bericht streichen ließ. Die Orientierung an den Reichen und Wohlhabenden hat eine Krise der politischen Repräsentation zur Folge: Parteien erhalten ihre Wählerstimmen aus den oberen und mittleren Schichten, die Unterschicht wendet sich von der für sie enttäuschenden Politik ab. Nicht nur die Reichen sind an der Tabuisierung der Ungleichheit interessiert. Die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann beschrieb in ihrem Vortrag „Hurra, wir dürfen zahlen“ den Selbstbetrug der absteigenden Mittelschicht, die die Argumentation der Reichen übernimmt und die Verantwortung für die eigene Misere den Armen und Ausgegrenzten zuschiebt; so funktioniert die politisch rechte bis rechtsradikale Stimmungsmache.[1] Der Umstand, dass sich ein Großteil des Vermögens auf wenige reiche Familien konzentriert, wird durch erhitzte Debatten um angebliche Bürgergeld-Schmarotzer und vermeintlich kostspielige „Einwanderer in die Sozialsysteme“ kaschiert. Laut Ulrike Herrmann entscheiden Wähler der Mittelschicht Wahlen im Sinne der Reichen; sie unterstützen mit ihrer Stimme beispielsweise eine Steuerpolitik, die Spitzenverdienern und Milliardärserben nutzt, aber der breiten Masse schadet.

Die bisherige Art, Wohlstand zu erzeugen und zu verteilen, hat keine Zukunft. Noch klammert sich die Mehrheit, folgt man den Wahlergebnissen, am Bestehenden und fürchtet den Verlust ihrer materiellen Güter und ihres Sozialprestiges. Daher folgt sie politischen Versprechen, die mit mehr oder weniger grünem Kapitalismus das gesellschaftliche „weiter so“ in Aussicht stellen; um E-Auto statt Dieselmotor, Wärmepumpe statt Gasheizung, Windenergie statt Braunkohle kreisen die politischen, häufig polemisch geführten Debatten, die ausblenden, dass die ökologische Wende nicht gelingen wird, wenn man sie auf sozial ungerechte Weise verordnen will. Klaus Dörre weist darauf hin, dass sich die Raumpflegerin nicht ihren verdienten Urlaub auf Mallorca vermiesen lässt, solange private 100-Meter-Jachten vor Monaco ankern. Der Psychologe Rainer Mausfeld beschreibt die menschliche Psyche, die an Gewohnheiten festhält und Veränderungen scheut, selbst wenn letztere Vorteile in Aussicht stellen. Dies erklärt, weshalb notwendige Veränderungen nur zögerlich und vielleicht zu spät erfolgen; offenbar muss der Leidensdruck ein gewisses Ausmaß erreichen. Mausfeld beobachtet, dass wir in einer bleiernen, kreativlosen Zeit leben. Das neoliberale „There is no Alternative“ (TINA-Syndrom) hat Visionen und Utopien eines emanzipierteren und entspannteren Zusammenlebens weitgehend aus dem Diskurs verbannt. Sie sollten über kleine Zirkel hinaus wieder öffentliches Thema werden.[2]


[1] Herrmann schrieb auch ein Buch zum Thema: Herrmann, Ulrike (2010): Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht. Frankfurt a. M.: Westend.

[2] Vgl.: Mausfeld, Rainer (2018): Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören. Frankfurt a.M.: Westend.

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