MPIDR-Studie: Arme und Erwerbslose mit höchstem Sterberisiko

MPIDR-Studie: Arme und Erwerbslose mit höchstem Sterberisiko

Pavel Grigoriev, Rembrandt Scholz und Vladimir M. Shkolnikov, Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock, veröffentlichten im Oktober 2019 ihre Studie über den Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Mortalität.¹ Sie analysierten die Daten der 30- bis 59jährigen, insgesamt etwa 27 Millionen Frauen und Männer, die von der deutschen Rentenversicherung 2013 erfasst wurden.

Für Deutschland lagen bis dahin keine genauen Ergebnisse vor. Die Autoren weisen darauf hin, dass nach deutschem Gesetz die Verknüpfung persönlicher Daten verboten sei, was solche Untersuchungen erschwere. Einen gewissen Aufschluss ermöglichte lediglich das Sozio-oekonomische Panel, das auf Umfragen basiert, an denen allerdings Angehörige marginalisierter Gruppen seltener teilnehmen. Grigoriev, Scholz und Shkolnikov gelang es mit ihrer Arbeit, für das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich größte Land der EU die Datenlücke zu schließen. Sie untersuchten, ob Einkommen, Bildung, Beschäftigungsstatus, Staatsangehörigkeit und Region einen Zusammenhang mit dem Sterberisiko aufweisen, wobei der Einfluss des Alters herausgerechnet wurde.

Das Ergebnis: Der sozioökonomische Status bestimmt maßgeblich das Sterberisiko: Erwerbslosigkeit verdoppelt die Sterblichkeit; für Männer ist zudem ein hinreichendes Einkommen entscheidend: Die Sterblichkeit des am schlechtesten verdienenden Fünftels der Versicherten war um 150 Prozent höher als die des am besten verdienenden. Weniger Bildung erhöht das Sterberisiko bei Männern um 30 Prozent.

Das MPIDR betont, dass insbesondere ostdeutsche Männer mit geringstem Einkommen und geringster Bildung betroffen sind: „Wie extrem der sozioökonomische Status, vor allem Einkommen, Arbeitsstatus und Bildung, die Überlebenschancen beeinflusst, zeigt die am stärksten benachteiligte Gruppe der Männer im Osten: 14 Prozent zählen hier zur untersten Einkommens- und Bildungsschicht. Diese Gruppe hat im Vergleich zur höchsten Einkommens- und Bildungsschicht ein mehr als achtmal so hohes Sterberisiko. In Westdeutschland ist die am stärksten benachteiligte Gruppe unter den Männern mit rund elf Prozent Bevölkerungsanteil kleiner, und mit einem gut fünfmal so hohen Sterberisiko etwas weniger benachteiligt. Zumindest für die Männer sind die Sterberisiken im Osten also deutlich ungleicher verteilt als im Westen. Trotzdem beeinflussen auch im Westen Einkommen und Arbeitslosigkeit das Sterberisiko erheblich.“²

Für Frauen mit geringstem Einkommen ist das Sterberisiko etwas geringer als für Männer dieser Gruppe, doch auch bei ihnen ist der Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status deutlich erkennbar. Die Autoren vermuten, dass Frauen häufiger vom Einkommen anderer Haushaltsangehöriger abhängig sind. Hypothetisch lässt sich zudem über die Feststellungen der Studie hinaus annehmen, dass in patriarchalisch geprägten Milieus Männer sich als „Ernährer der Familie“ vorrangig mit Job und Einkommen identifizieren, so dass Erwerbslosigkeit und geringes Einkommen eine besondere psychische Belastung darstellen, die gesundheitliche Folgen hat. Und Frauen evtl. auch einfach resilienter sind.

Der Faktor Region habe indessen kaum Einfluss. Die Autoren differenzierten aber nur den Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland. Der höhere Anteil von Betroffenen in Ostdeutschland resultiert lediglich aus der höheren Armutsquote in diesem Gebiet. Hier wäre eine differenziertere Betrachtung aufschlussreich gewesen: Ärmere wohnen wahrscheinlich in den Stadtvierteln mit den schlechtesten Umweltbedingungen, den engsten Wohnverhältnissen, der größten Abgaskonzentration, dem meisten Verkehrslärm und der höchsten Kriminalitätsrate. Auch dieser Aspekt wäre für politisches Handeln (z.B. Verkehrsberuhigung, Tempolimit, sozialer Wohnungsbau, Entsiegelung und Begrünung innerstädtischer Flächen, Sozialarbeit usw.) in Betracht zu ziehen.

In Bezug auf unterschiedliche Staatsangehörigkeit stießen die Forscher auf einen „Migranteneffekt“, der das Sterberisiko vermindert: „Nach der Fixierung sozioökonomischer und sonstiger Variablen stellten wir fest, dass das Sterberisiko von nichtdeutschen Staatsangehörigen im arbeitsfähigen Alter nur halb so hoch war wie für deutsche Staatsangehörige.“ Andererseits sind Migranten und Flüchtlinge deutlich häufiger von Armut bedroht: 40 Prozent von ihnen, Frauen und Männer gleichermaßen, gehören dem untersten Einkommensquintil an, zu dem auch 22 Prozent der deutschen Frauen und 17 Prozent der deutschen Männer gehören.

¹ Grigoriev, Pavel/Scholz, Rembrandt/Shkolnikov, Vladimir M (2019): Socioeconomic differences in mortality among 27 million economically active Germans: a cross-sectional analysis of the German Pension Fund data. In: BMJ Open 9, S. 1-9. (doi:10.1136/bmjopen-2018-028001)

² https://www.demogr.mpg.de/de/news_events_6123/news_pressemitteilungen_4630/presse/hoechstes_sterberisiko_fuer_arme_und_arbeitslose_6649

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