13. Oktober 2010
Rücknahme des Revisionsantrags: Freispruch vom März 2010 jetzt rechtskräftig
Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer,

überraschend zog die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg den Revisionsantrag gegen das erstinstanzliche Urteil vom März diesen Jahres zurück. Damit ist der am 24.03.2010 erfolgte Freispruch von Dr. Sabine Schiffer rechtskräftig.

Der für kommenden Mittwoch, 13.Oktober 2010 anberaumte Gerichtstermin zur Verhandlung des Revisionsantrags ist damit hinfällig.

Erleichtert und mit großer Freude sehen wir unsere Rechtsauffassung bestätigt. Wissenschaft und freie Presse haben von Verfassung wegen das Recht und die Aufgabe, das Parlament bei der Kontrolle der Staatsgewalt zu unterstützen und die Teilnahme des Bürgers am demokratischen Diskussionsprozess zu fördern.

Die Medienwissenschaftlerin Frau Dr. Sabine Schiffer nahm und nimmt diese Aufgabe in Beispiel gebender Form wahr. Sie hat sich auch durch die Strafandrohung nicht von ihrer wissenschaftlich begründeten Haltung und ihren kritischen Fragen zum Mord an Marwa El-Sherbini abbringen lassen. Wir gratulieren Dr. Sabine Schiffer zum nun rechtskräftig gewordenen Freispruch!

Zugleich hat der Freispruch aber Bedeutung über die Person Dr. Schiffer hinaus. Rassismus in keiner Form hinzunehmen, Grundrechte zu verteidigen und solidarisch zu handeln – dafür sind wir alle verantwortlich. Wir möchten uns hiermit nochmals bei Ihnen/Euch für die Unterstützung bedanken!

Die bisher eingegangenen Spenden möchten wir mit Einverständnis der Spenderinnen und Spender an das Institut für Medienverantwortung für die Fortsetzung der dortigen aufklärerischen Arbeit weiterreichen. Wer einen anderen Verwendungszweck für seinen Betrag oder die Rücküberweisung wünscht, möchte sich bitte bei uns melden.

Mit solidarischen Grüßen,

Dr. Helmut Aichele, Manfred Kirscher, Isa Paape

Siehe auch: Pressemitteilung Sabine Schiffer zur Einstellung des Revisionsverfahrens, 12.10.2010 (PDF)

Ältere Pressemitteilungen und Dokumente

Kriminalisierung von Meinungsäußerungen statt Aufklärungsarbeit im Mordfall Marwa El-Sherbini

Die juristischen Entwicklungen nach der Ermordung El-Sherbinis in Dresden machen uns besorgt und – im wahrsten Wortsinne – betroffen. Denn sie betreffen auch uns!

Gegen die Erlanger Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer ist ein Strafbefehl wegen übler Nachrede in Höhe von 6000 EUR bzw. zwei Monaten Haft ergangen, weil sie in einem Interview geäußert habe, der Fehlschuss des Polizisten auf den Ehemann der Ermordeten müsse auf mögliche rassistische Zusammenhänge hin untersucht werden – dies wurde in verschiedenen Interviews jeweils unterschiedlich formuliert.1

Diese juristische Vorgehensweise macht uns betroffen, weil sie auch uns und unser Rechtsstaatsverständnis betrifft.

  • Unabhängig davon, ob man es – wie in der Berliner Zeitung vom 5. und 6. Januar erörtert – für notwendig erachtet, dass die offenen Fragen um den Mord in Dresden weitere Untersuchungen erfordern
  • unabhängig davon, ob man die pointierte Vermutung Schiffers voll inhaltlich teilt oder nicht

Es kann und darf nicht sein, dass durch juristische Einschüchterungsversuche Meinungs- und Pressefreiheit beschnitten werden! Es kann und darf nicht sein, dass freies wissenschaftliches Forschen, Denken und Spekulieren, wie hier im Kontext der Rassismusforschung, durch eine eingeengte und fachfremde juristische Vorgehensweise beschränkt werden soll, die in unseren Augen den Ansprüchen an Unab­hängigkeit und Unparteilichkeit nur schwerlich genügt.

Es muss in Deutschland möglich sein, begründete und begründbare Beobachtungen, Thesen, Möglichkeiten und Vermutungen anzustellen – auch und gerade öffentlich, um den Erkenntnisgewinn zu befördern. Das ist die Aufgabe von Wissenschaft und auch von Medien als Vierter Gewalt. Wissenschaft und freie Presse haben von Ver­fassungswegen das Recht und die Aufgabe, das Parlament bei der Kontrolle die Staatsgewalt zu unterstützen und die Teilnahme des Bürgers am demokratischen Diskussionsprozess zu fördern. Auch und gerade um für Bürgerrechte und Demokratie gefährliche Tendenzen zu benennen. Die Befürchtung, dass die Polizei hier in Sachen Reflexion von in der Gesellschaft weit verbreiteten rassistischen Stereotypen ein Ausbildungsdefizit hat, ist möglich, und muss deshalb öffentlich ausgesprochen werden können. Wie sollen denn in diesem Staat Probleme gelöst werden, die ohne das Risiko der Strafverfolgung nicht mehr benannt werden können? Das Gewaltmonopol des Staates ist u.a. auch damit zu rechtfertigen, dass es dieses Recht sichert und nicht beschneidet.

Es kam immer wieder zu Übergriffen gegen die Unabhängigkeit der Vierten Gewalt: beispielhaft seien hier die Verfahren der Presserechtskammer am Landgericht Hamburg genannt sowie die sog. Cicero-Affäre von 2005, als die Staatsanwaltschaft Potsdam die Redaktionsräume durchsuchen ließ. Der Strafbefehl gegen Schiffer, der um ein Vielfaches höher ist als im Beleidigungsfall des späteren Täters Wiens gegen El-Sherbini – hat deshalb eine offensichtliche einschüchternde Wirkung, die wir auch schon an uns beobachten.

Wir fragen uns, ob nicht allein hierin bereits eine extreme Schieflage und das Messen mit zweierlei Maß deutlich werden – etwa wenn es darum geht, die Meinungsfreiheit gegenüber Muslimen zu verteidigen oder auch dann, wenn sie uns selbst weh tut. Dass es strukturellen und subtilen Rassismus an vielen Stellen in unserem Alltag gibt und dass wir entsprechend – unbewusst und ungewollt – „erzogen“ werden, ist in der Wissenschaft unbestritten.

Dabei geht es nicht darum, einzelne Personen wie den Polizisten, der auf El-Sherbinis Ehemann schoss, „an den Pranger“ zu stellen – es geht nicht um ihn persönlich, son­dern um den Vorfall, der darauf hindeuten könnte, welche (mentalen) Strukturen Polizeiarbeit ganz generell beeinflussen – wie auch den Rest der Gesellschaft. In der Debatte ist der Beamte nie – auch nicht von Schiffer – persönlich oder namentlich angegriffen worden, was verdeutlicht, wie absurd der Vorwurf der „üblen Nachrede“ ist.

Wissenschaft und Medien müssen dabei behilflich sein, ein verstärktes Problem­bewusstsein und damit auch die Chance für Verbesserungen in der Öffentlichkeit zu pflegen.

Und dazu braucht es Menschen, die nicht besonders mutig sein müssen, sondern die ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen, um nachzudenken und um Veränderungen anzustoßen. Menschen, die hier ihre – und eben auch unsere! – Verantwortung wahrnehmen, haben ein Recht auf rechtsstaatliche Unterstützung und gesellschaftliche Solidarität.

Deshalb erklären wir uns mit Sabine Schiffer solidarisch und deshalb sehen wir uns veranlasst, uns als Aktionsbündnis gegen Rassismus und für Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zusammen zu schließen und für rege Diskussion und Beteiligung zu werben.

Mehr Infos unter Medienverantwortung.de

Presseerklärung vom 18.2.2010 (PDF)

V.i.S.d.P.: Dr. Helmut Aichele, Isa Paape und Manfred Kirscher