Neuer Maßstab: Glücksforschung

Neuer Maßstab: Glücksforschung

Das Wort Glück scheint im gesellschaftspolitischen Diskurs heikel. Aldous Huxley beschrieb in seiner Dystopie, wie sich mit der Verabreichung von Glückspillen totalitäre Herrschaft sichern lässt, mit Glückspillen, die das Repressive einer kastenförmig organisierten Gesellschaft verschleiern. Eine Regierung kann das Glück nicht verordnen, aber sie sollte die Voraussetzung dafür schaffen, dass alle Bürger gleichermaßen die Chance erhalten, so oft wie möglich Glück und Zufriedenheit zu empfinden. Eine solche Chancengleichheit ist aber in ungleichen Gesellschaften nicht gegeben. Laut dem Ökonomen und Glücksforscher Mathias Binswanger sind in wohlhabenden Ländern wie die USA die Bezieher geringer Einkommen deutlich unglücklicher als jene der höheren.[1] In gleicheren Gesellschaften fühlen sich hingegen auch Angehörige der wohlhabenderen Einkommensgruppen glücklicher als in Gesellschaften mit starkem Einkommensgefälle. Weniger Stress um den sozialen Status wirkt sich für alle günstig aus.    

Die Sachbuch-Autorin Vivian Dittmar, die sowohl in Deutschland und den USA als auch in Indonesien aufwuchs, bemerkt in den wohlhabenden Ländern die innere Armut der Menschen bei gleichzeitigem materiellen Überfluss.[2] Die mürrischen Gesichter in der westlichen Öffentlichkeit verraten Unzufriedenheit, hinzu kommt ein stressiges Zeitmanagement, das einerseits auf Zeitersparnis setzt, andererseits Zeitvertreib benötigt; zudem leiden viele Menschen an Einsamkeit und innerer Leere. Sie sieht die Ursache für diese Phänomene im Wirtschaftssystem, das auf „Take-Made-Waste“ setzt: Desto schneller sich Ressourcen in Müll verwandeln, desto schneller wächst die Wirtschaft. Sie fordert ein neues, glücksorientiertes Verständnis von Wohlstand, der einen besseren Umgang mit der Zeit, Beziehungen, Kreativität und Spiritualität ermöglicht.

Das persönliche Glück ist nicht messbar, denn es gehört wie das Empfinden von Liebe, Schmerz oder Angst zu den Qualia, die nicht im naturwissenschaftlichen Experiment quantifiziert werden können. Dennoch bestehen zahlreiche Glücksindexe, die ein Ranking der glücklichsten bis unglücklichsten Länder aufführen. Sie basieren auf Umfragen und sind mit Vorsicht zu verwenden. Denn ob sich jemand als glücklich und zufrieden bezeichnet, ist eine kulturelle Frage. Verschiedene Sprachen verdeutlichen ein unterschiedliches Verständnis: Im Deutschen bezeichnet „Ich bin glücklich“ einen Ausnahmezustand, im Englischen bedeutet „I am happy“ ein alltägliches Empfinden. Im Italienischen unterscheidet man „felicitá“, das innere Glücksempfinden, und „fortuna“, günstige äußere Umstände, die Wohlbefinden erzeugen. Verschieden sind zudem die kulturellen Unterschiede, die eigene Unzufriedenheit und das eigene Unglück in Umfragen einzugestehen. Wer in einem wohlhabenden Land lebt, scheut sich oftmals, in eigener Sache zu klagen; es könnte als Eingeständnis des persönlichen Scheiterns oder als Lamentieren gewertet werden; Soziologen bezeichnen dieses Phänomen, das Umfrageergebnisse verzerrt, als Social-desirability bias.

Bhutan, das kleine Land im Himalaya zwischen China und Indien, das weniger als 800.000 Einwohner zählt, wurde international bekannt, weil seine Regierung sich nicht am Bruttoinlandprodukt, sondern am Bruttonationalglück orientiert. Das buddhistische Staatswesen ist dem Glück seiner Bürger verpflichtet. Tobias Pfaff beschreibt, dass in der Kultur Bhutans Glück auf speziellen Voraussetzungen basiert, die vom westlichen Verständnis abweichen: Der Geist hat Vorrang vor Materie, keinem Lebewesen soll geschadet werden, der Glaube an Reinkarnation sieht das Leben als Kreislauf und jede Einzelheit steht in einem größeren Zusammenhang, weil im Universum alles mit allem verbunden ist.[3] Wirtschaftliches Wachstum ist streng reguliert: Ausländische Investoren dürfen sich nur im begrenzten Maß an der wirtschaftlichen Entwicklung beteiligen. Massentourismus wird durch hohe Gebühren für ausländische Besucher verhindert. 60 Prozent des Landes müssen aus Wald bestehen, das verhindert Kahlschlag zugunsten kurzfristiger Profite. Doch nicht alle Maßnahmen der Regierung sind auf das Glück aller gerichtet: Als Nepalesen einwanderten, sahen die Bhutaner ihre eigene Kultur und die Unabhängigkeit ihres Landes gefährdet und beschlossen, die Migranten aus dem Nachbarland abzuschieben. Trotz einer moderaten Öffnung des Landes in den letzten Jahrzehnten und eines gewissen Fortschritts gehört Bhutan weiterhin zu den armen Ländern und schneidet im World Happiness Report der Vereinten Nationen mäßig ab. Dennoch regt das Land international neue Diskussionen an, nach welchen Prinzipien die Menschheit leben und wirtschaften soll.

Das neue Unbehagen, das sich in westlichen Ländern äußert, der Zweifel an politischen Parteien und der Erfolg des Rechtsextremismus, die sich von Jahr zu Jahr steigernde Ungleichheit, Konflikte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, die schädlichen Folgen des Überkonsums und das Gerangel um Sozialprestige sind Anzeichen, dass die sozioökonomischen Kriterien des Wohlstandes ungleichzeitig sind und durch neue ersetzt werden sollten, die tatsächlich die Humanisierung und Emanzipation des einzelnen und der gesamten Gesellschaft bedeuten. 


[1] Vgl.: Binswanger, Mathias (2006): Why does income growth fail to make us happier? Searching for the treadmills behind the paradox of happiness. The Journal of Socio-Economics 35, S. 366–381.

[2] Vgl.: Dittmar, Vivian (2021): Echter Wohlstand – Ein Plädoyer für neue Werte. München: Goldmann-Kailash.

[3] Pfaff, Tobias (2011): Das Bruttonationalglück aus ordnungspolitischer Sicht – eine Analyse des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems von Bhutan. In: Working Paper Series des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) 182, S. 1–27.

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