Liebe Interessierte,
Machtmissbrauch steht ganz oben auf der Rechercheagenda der Medien – allerdings nicht in allen Fällen, wie man immer wieder feststellen muss. Verdachtsberichterstattung ohne ausreichende Absicherung der Faktenlage kann auf der anderen Seite Existenzen vernichten. Hierin liegen Dilemma und Kern großer Medienverantwortung.
In diesem Newsletter soll es nicht um die Inhalte von Vorwürfen gehen, sondern um die medienethische Komponente bei Fällen wie Till Lindemann, Christian Wulff, Aiwanger & Co.
Die medienethischen Grundlagen – denn Medien sollen ja Missstände aufdecken, aber sich nicht der Verleumdung schuldig machen (der Grat ist bisweilen dünn) – sind entlang der einzelnen Punkte im bestehenden Pressekodex zu ermitteln, da es keinen eigenen Unterpunkt zur Verdachtsberichterstattung gibt: https://www.presserat.de/pressekodex.html. Das Netzwerk Medienethik der DGPuK https://www.netzwerk-medienethik.de/wp-content/uploads/2014/02/NME-2015-Book-of-Abstracts1.pdf stellt fest, dass es vermehrt eine Tendenz in Richtung „Vernachlässigung von Persönlichkeitsrechten“ mit dem Potential zum Rufmord gebe. Wir verzichten hier auf die Inhalte einzugehen – das holen wir in einem anderen Newsletter nach.
Zum Einstieg sei dieser Podcast empfohlen, der einen Überblick gibt und einige Journalisten zu Wort kommen lässt: https://www.ardaudiothek.de/episode/br24-medien/verdachtsberichterstattung-im-fokus-was-duerfen-journalisten/br24/94745724. Dieses Gespräch ergänzt den ersten Beitrag gut mit einem anderen Wording: http://sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=31993&pnr=&tbl=pf.
Wenn es um das Problematisieren von Dilemmata geht, dann kann das kein anderer so eindrücklich erörtern wie Ferdinand von Schirach. Ob das Format TalkSHOW dafür so gut geeignet ist, ist eine andere Frage – hier bei Lanz: https://www.youtube.com/watch?v=g_8V7nYLTbo. Sorgfältig auch Jost Müller-Neuhof im Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/meinung/halbe-wahrheiten-im-fall-aiwanger-die-mitschuld-der-medien-am-populisten-aufstieg-10411747.html.
So, alles unklar? Ja und nun folgt noch eine viel größere Verwirrung, denn wenn Anwälte streiten, dann hat jeder gute Argumente und juristische Belege. Leider lassen sich in diesem Format des Newsletters die Twitter-Debatten nicht nachzeichnen. Weiter unten werden also andere Medien der auffälligsten Anwalt-Accounts angeführt, um einen Einblick zu bekommen. Zunächst ein Blick in das Online-Medium LtO Legal Tribune Online:
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/lindemann-spiegel-unterlassung-rammstein-lg-hamburg
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/shelby-lynn-sieg-gericht
Im Deutschlandfunk kommentierte Christina Clemm die Einstellung des Verfahrens gegen Till Lindemann und ordnet es gleichzeitig in die Dimension der MeToo-Debatten ein: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kein-beweis-des-gegenteils-ermittlungen-gegen-till-lindemann-eingestellt-dlf-kultur-f7c0cc78-100.html.
Ein Tweet von Udo Vetter stach bemerkenswert aus sonstigen Twitter-Schlammschlachten hervor, denn er empfahl die Tweets – die ja neuerdings Posts heißen – seines Kollegen Thomas Stadler, der diametral anderer Ansicht ist als er in der Causa Aiwanger. Ein sachlich-kritischer Diskurs ist also auch auf Social-Media Plattformen möglich und zeugt vom Erkenntnis- und Klärungswillen. Sehr wohltuend, wenn man die Shitstorms auf Twitter-X kennt. Da sich jedoch die Twitter-Debatte hier nicht adäquat abbilden lässt, wird zum Verweis auf die genannten Akteure auf einige Einträge in deren Blogs verwiesen:
Udo Vetter warnt etwa vor der Weiterverbreitung des antisemitischen Flugblatts im Fall Aiwanger: https://www.lawblog.de/archives/2023/09/01/macht-euch-mit-dem-aiwanger-flugblatt-nicht-ungluecklich. Eine Kampagne wittert Thomas Stadler: https://www.internet-law.de/2023/08/die-sz-und-die-causa-aiwanger.html. Dem widerspricht Chan-Jo Jun entschieden, der eher eine Verharmlosung von Antisemitismus ausmacht – allerdings nicht zum Thema bloggt (https://www.junit.de/2020/news); deshalb hier ein Zitat aus X: „Harsche Kritik an #Aiwanger stößt auf Ablehnung in konservativen Kreisen, die das Flugblatt zwar einleitend verteufeln, dann aber den Umgang unfair finden. Kann es sein, dass Teile unserer Gesellschaft Hitlergruß und KZ-Witze tatsächlich gerne als Kavaliersdelikte sehen möchten?“ (02.09.23)
Zum Fall Lindemann ebenfalls ein Zitat aus X, diesmal von Niema Movassat: „Die Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft bzgl. #Lindemann ist kein „Freispruch“. Die Entscheidung hat keinen Strafklageverbrauch zu Folge. Bedeutet: Sobald es neue Erkenntnisse / Beweismittel gibt, kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren jederzeit wieder aufnehmen.“ (29.08.23) Udo Vetter betont u.a. den medialen Impetus: „(…) Die Ermittlungen begannen allein aufgrund von Presseberichten. Mutmaßliche Geschädigte haben sich bislang nicht bei den Behörden gemeldet. Die Frauen sprachen ausschließlich mit den Medien, welche in ihren Berichten auch keine Namen nannten. Bei Rückfragen der Staatsanwaltschaft beriefen sich die Medien auf ihr gesetzliches Recht, Angaben zu ihren Quellen zu verweigern. Die Möglichkeit, etwaige Tatvorwürfe ausreichend zu konkretisieren, bestand laut Staatsanwaltschaft somit nicht. Ebenso wenig die Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit der Angaben zu überprüfen. […)“ (29.08.23) Jan-Jo Jun „#Lindemann-Anwälte betreiben so geschickte LitigationPR, dass man über jene Punkte streitet, die gar nicht behauptet wurden; dabei geht es gar nicht darum, ob #Lindemann die Drogen selbst verabreicht, sondern darum, dass betäubte Frauen für Sex belogen und getäuscht werden.“ (18.08.23)
Der Verteidiger Aiwangers, Carsten Brennecke – Partner von Höcker-Anwälte – kommentiert mehrfach die Verdachtsberichterstattung auf Twitter-X: „Die #Verdachtsberichterstattung der @SZ über #Aiwanger ist klar rechtswidrig. Der abträgliche Verdacht wird frei abrufbar gestreut, Aiwangers Dementi wird aber frech hinter der #Paywall versteckt, so dass nur Abonnenten es wahrnehmen können.“ (26.08.23) Und legt später nach: „Richtig und wichtig, dass immer mehr Medien zu den Fällen #Aiwanger und #Lindemann kritisieren, dass der publizistische Aktivismus, mit dem Themen verfolgt werden, der Sache und Glaubwürdigkeit des Journalismus nicht gut tun.“ (05.09.23)
Die politische Ausrichtung der einzelnen Anwälte, ebenso wie der einzelnen Kommentatoren, die Persönlichkeitsrechte oder das allgemeine Interesse verteidigen, überlassen wir Euch zur eigenen Meinungsbildung. Es bleibt unbefriedigend, weil die Rechtsgüter im Einzelfall abzuwägen sind. Auffällig bleibt jedoch insgesamt, dass das Urteilen über Menschen, die man zur „out-group“ zählt, viel schneller gefällt wird, als die differenzierten Auseinandersetzungen zu Menschen der „in-group“, denen man offensichtlich Fehler zugesteht.
Zum Abschluss noch eine Veranstaltungsempfehlung zum Thema 12.09.2023: Wie geht Verdachtsberichterstattung? (Netzwerk Recherche). Hier geht es zu Anmeldung: https://netzwerkrecherche.org/termine/termin/nr-insights-wie-geht-verdachtsberichterstattung
IMV News
Im Sommer ist der Sammelband „Agenda-Cutting“, herausgegeben von Hektor Haarkötter und Jörg-Uwe Nieland, erschienen mit einem Aufsatz von Sabine Schiffer zum Framing von „Halle“ und „Hanau“ durch sogenanntes Second-Level Agenda Setting: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-38803-4 (Zur Initiative Nachrichtenaufklärung INA geht es hier: http://www.derblindefleck.de).