Wer in den durchökonomisierten westlichen Gesellschaften von relativer Armut betroffen ist, dem wird die gesellschaftliche Teilhabe oftmals verwehrt. Das Treffen mit dem Freundeskreis in der Kneipe, der gemeinsame Kino- oder Theaterbesuch oder Verabredungen zu Wochenendausflügen werden für Geringverdiener und Bezieher von Sozialleistungen unerschwinglich; die Inflation verschärft ihre Situation. Diejenigen, die im Konsum und in der Selbstdarstellung mittels Statussymbole nicht mithalten können, ziehen sich zurück, vereinsamen oder suchen sich im Schlangestehen vor der Lebensmittel-Tafel oder an der Theke von Suppenküchen einen neuen Bekanntenkreis, der ihre sozialen Probleme teilt und sie versteht.
Der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer analysiert die Tendenzen der gespaltenen deutschen Gesellschaft; die „Verschärfung sozialer Ungleichheit“, die „Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich“ gehen einher mit der „Ausgrenzung von sozialen Gruppen und Milieus vom Zugang zu materiellen und kulturellen Gütern“, „Einsparung von sozialen Unterstützungssystemen und Infrastruktureinrichtungen“, „Abwertung und Diskriminierung von ethnisch-kulturellen Minderheiten“, der „Fragmentierung von Lebenszusammenhängen“, der „Zerstörung sozialer Beziehungen“ und der „Auflösung basaler Werte- und Normenkonsense“. [1] Zwar gelte die neue kulturelle Norm der Individualisierung für alle, doch sie verleihe ungleiche Realisierungschancen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Milieus. Die Betroffenen neigten zu einer „strukturellen Konservierung von Statuspositionen und Milieuzugehörigkeiten“ bei gleichzeitigem „kulturellen Wandlungsdruck“, der Konflikte zwischen Individuen und Milieus innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie verursacht. Die von bürgerlichen Politikern oftmals gelobte Wettbewerbsgesellschaft betreibt ihre eigene Zerstörung: „Konkurrenz wird zum zentralen Motor von Desintegration und damit der Auflösung des Sozialen.“
Der Hang zur Abwertung der anderen nimmt in Konkurrenzgesellschaften allgemein zu. Heitmeyer beschreibt als besondere Variante der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit eine „rohe Bürgerlichkeit“, die seit der Finanzkrise von 2009 verstärkt zu beobachten ist und die nach Ansicht des Soziologen den „inneren sozialen Frieden“ bedroht. Er nennt den Ökonomen und Politiker Thilo Sarrazin als einen dieser „elitären Stichwortgeber“, der im sozialdarwinistischen Stil die „Renaturalisierung von Ungleichheit“ propagiere. Heitmeyer definiert rohe Bürgerlichkeit als „Zusammenspiel von glatter Stilfassade, vornehm rabiater Rhetorik sowie autoritären, aggressiven Einstellungen und Haltungen. Sie findet ihren Ausdruck in einem Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen und der rigorosen Verteidigung bzw. Einforderung eigener Etabliertenvorrechte im Duktus der Überlegenheit. Sie artikuliert sich über eine Ideologie der Ungleichwertigkeit.“ Betreiber dieser sozialen Spaltung sind elitäre Akteure, zu denen „politische und wirtschaftliche Entscheider ebenso wie intellektuelle Diskursagenten von wissenschaftlichen, insbesondere wirtschaftswissenschaftlichen, medialen und politischen Eliten“ gehören.
Förderprogramm für Rassismus und Rechtsextremismus
Dass Rechtsextremismus und Rassismus keineswegs nur innerhalb sozial benachteiligter Gruppen oder in der vom Abstieg bedrohten unteren Mittelschicht grassieren, zeigten veröffentlichte Video-Aufnahmen aus einem Sylter Nobelclub, die zu Pfingsten 2024 einen Skandal bewirkten. Die Taz recherchierte, dass Angehörige eines „entgrenzten Oberschicht-Milieus“ zu einem Disco-Hit rassistische Parolen grölten, unter ihnen befanden sich „Unternehmensberater, Influencer, Werber, Manager, Wirtschaftsdozenten – aus München, Coburg, Hamburg“. Die Abwertung subalterner Gruppen ist stets eine rechtsradikale Erscheinung. Sie bezweckt die Erhaltung des bestehenden, immer noch patriarchalisch organisierten Herrschaftsgefüges, das den angeblich Schwachen und Unnützen das Existenzrecht versagt. Am 27. Mai 2024 beschädigte ein Unbekannter die Eingangstür einer Behinderteneinrichtung in Mönchengladbach-Rheydt mit einem Ziegelstein, auf dem in Anspielung auf den NS-Massenmord an Psychiatriepatienten geschrieben stand: „Euthanasie ist die Lösung“.
[1]Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (1999): Bundesrepublik Deutschland: auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. 1: Was treibt die Gesellschaft auseinander? – 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt: Suhrkamp. (= Edition Suhrkamp Kultur und Konflikt 2004). S. 10 f. Das Wort „schwach“ finde ich, U.B., problematisch, ich würde es durch „sozial benachteiligt“ ersetzen.