Ernährungsarmut: Bürgergeld reicht für gesundes Essen nicht aus

Ernährungsarmut: Bürgergeld reicht für gesundes Essen nicht aus

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigste Todesursache in Deutschland. Eine Studie der Universität Jena belegt, dass ein Drittel aller Herzinfarkte und Schlaganfälle auf Fehlernährung zurückzuführen ist.https://www.mdr.de/wissen/medizin-gesundheit/fehlernaehrung-jeder-sechste-herz-kreislauf-patient-stirbt100.html#:~:text=Etwa%20900.000%20Menschen%20in%20Deutschland,Jahr%20rund%20600.000%20vorzeitige%20Todesfälle . Allein 2019 starben in Deutschland 113.000 Menschen, weil ihr Herz oder ihr Kreislauf wegen Fehlernährung versagt hatte. Das waren 31 Prozent aller Todesfälle aus dieser Krankheitsgruppe und 10 Prozent aller Sterbefälle insgesamt. Die Jenaer Ernährungsphysiologin Theresa Pörschmann bedauert: „Es sind leider immer wieder die gleichen Lebensmittel, von denen wir entweder zu wenig oder zu viel essen.” Zuviel konsumiert werde rotes Fleisch und Salz, zu wenig Vollkorn und Hülsenfrüchte. Das “wir” verhüllt allerdings die sozioökonomischen Unterschiede: Nicht Unkenntnis oder Suchtverhalten sind der Hauptgrund für schlechte Ernährung, sondern Armut. Darauf weisen Verbände hin, die sich mit Sozialem oder mit Ernährung beschäftigen. Die erste Ausgabe des GesellschaftsReports des Jahres 2023, der von der Landesregierung Baden-Württemberg herausgegeben wird, widmete sich dem Thema “Armut als Ernährungsrisiko”. https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Downloads_Familie/GesellschaftsReport_BW_1-2023_barrierefrei.pdf

Die Abteilung FamilienForschung des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg untersuchte verfügbare Daten zur Ernährungsarmut. Es stellte sich heraus, dass deutsche Behörden keine verwertbaren Zahlen und Fakten dazu liefern. Die Statistiker mussten auf EU-SILC-Umfragen1, weitere demoskopische Erhebungen und Erkenntnisse einzelner Forscher zurückgreifen, so dass sie zwar nicht sämtliche Fragen klären konnten, doch aufzuzeigen vermochten, dass in Deutschland Mangelernährung und sogar Hunger alltägliche Phänomene sind.

Materielle Ernährungsarmut

Die materielle Ernährungsarmut bedeutet, dass Betroffene den Bedarf an Nahrungsmitteln quantitativ nicht decken können oder diese ernährungsphysiologisch und hygienisch mangelhaft sind. Etwa ein Zehntel der deutschen Bevölkerung kann sich laut SILC-Daten nicht mindestens jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel oder Fisch bzw. eine vergleichbar hochwertige vegetarische Mahlzeit leisten. Ernährungsarmut ist nicht ausschließlich, aber vorrangig ein Phänomen finanzieller Armut. Von den 16,5 Prozent der Einwohner Baden-Württembergs, die 2021 laut EU-Definition als “armutsgefährdet” galten, konnten sich 25,4 Prozent nicht mindestens alle zwei Tage ein gutes Essen leisten. Ein Tagungsbericht des Bundeszentrums der Ernährung https://www.bzfe.de/ernaehrung-im-fokus/nachlese/bzfe-forum-ernaehrungsarmutnennt FAO-Angaben von 2022. Demnach beträgt der Anteil der Ernährungsarmen an der deutschen Bevölkerung 3,5 Prozent, das sind etwa drei Millionen Einwohner, die Schwierigkeiten haben, überhaupt an Nahrung zu gelangen. Solche Personen haben laut Umfragen innerhalb der letzten vier Wochen karitative Essensausgaben aufgesucht oder waren in der letzten Woche hungrig und sie waren nicht in der Lage, sich gesund zu ernähren.

Von Armut und Ausgrenzung Betroffene verzichten häufig auf frisches Obst und Gemüse, weil es zu teuer ist. Sie bevorzugen billigere Lebensmittel, die verarbeitet sind, viele Kalorien, aber kaum Nährstoffe beinhalten. Die Inflation der letzten Jahre verschärft den bedenklichen Trend. Die Preissteigerungen betrafen vorrangig Lebensmittel; das belastete den ärmeren Teil der Bevölkerung härter als den wohlhabenderen. Im Jahr 2018 gab das unterste Zehntel der Einkommensgruppen Baden-Württembergs mehr als die Hälfte seines Budgets für Nahrung und Wohnung aus (14 Prozent für Nahrung, 38 Prozent für Wohnung); das oberste, wohlhabendste Zehntel musste dafür nur gut ein Drittel ausgeben, nämlich 10 Prozent für Nahrung und 24 Prozent für das Wohnen.

Während das Wohnen mit vielen Fixkosten verbunden ist, kann am Essen gespart werden. Wenn das Geld nicht reicht, verzichten Ernährungsarme auf Mahlzeiten und Lebensmittel, Eltern essen weniger zugunsten der Kinder. Die schlechte Ernährung hat Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit. Zu kalorienreiches und nährstoffarmes Essen schwächt das Immunsystem, verursacht Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und des Stoffwechsels; zu hoher Kaloriengehalt, zuviel Zucker und Salz bewirken Diabetes, Adipositas, Herzinfarkt, Schlaganfälle und Krebs.

Bürgergeldempfänger müssen trotz mäßiger Erhöhungen ihrer Sozialleistungen in den letzten Jahren mit einem Budget leben, das für gesundes Essen nicht hinreicht. Derzeit (Stand Juli 2024) stehen einem erwachsenen Leistungsbezieher täglich nur 6,42 Euro für Lebensmittel zur Verfügung. Zahlreiche Verbände und Initiativen wie der Paritätische Wohlfahrtsverbandhttps://www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/bundesregierung-beschliesst-ernaehrungsstrategie-effektive-massnahmen-gegen-ernaehrungsarmut-fehlen, FIAN https://www.fian.de/aktuelles/gutachten-buergergeldregelbetraege-verstossen-gegen-das-recht-auf-nahrung, die Deutsche Gesellschaft für Ernährung https://www.dge-niedersachsen.de/ernaehrungsarmut-in-deutschland-ein-vernachlaessigtes-problem-das-politisches-handeln-erfordertoder Foodwatch https://www.foodwatch.org/de/bundesregierung-ignoriert-wachsende-ernaehrungsarmutkritisieren die Bemessung des Bürgergeldes, die zu gering ist, um gesunde Ernährung zu gewährleisten.

Die FR wies am 18. Juli 2024 in einem Bericht zum Thema darauf hin, dass die Bunderegierung die Ernährungsarmut ignoriert und die Verantwortung den Betroffenen und ihrem “ungünstigen Ernährungsverhalten” zuschiebt https://www.fr.de/politik/buergergeld-reichen-42-euro-pro-tag-fuer-gesunde-ernaehrung-93192786.html. Dagegen steht ein Rechtsgutachten der Hamburger Anwaltskanzlei Günther im Auftrag der Fraktion der Linken im Bundestag. Die Juristen kommen zu dem Ergebnis, dass Deutschland seiner Bevölkerung nicht das Recht auf angemessene Ernährung garantiert und damit gegen den UN-Sozialpakt verstößt.

Soziale Ernährungsarmut

Das Gemeinschaftsleben ist oftmals mit Essen und Trinken verbunden. Verwandte, Freunde und Bekannte treffen sich in Kneipen oder Restaurants, um zusammen Speisen und Getränke zu konsumieren. Einladungen zum Essen im eigenen Haushalt fördern ebenfalls zwischenmenschliche Beziehungen. Wer dafür nicht die finanziellen Ressourcen hat, kann nur begrenzt oder gar nicht am sozialen Leben teilnehmen. Soziale Ernährungsarmut trägt wesentlich zur gesellschaftlichen Ausgrenzung bei. Die Statistiker bemängeln, dass eine genaue Erfassung der ernährungsbezogenen sozialen Teilhabe aufgrund mangelnder Datenlage nicht möglich ist. Allerdings weist eine Angabe in den SILC-Umfragen von 2021 darauf hin, dass soziale Ernährungsarmut für viele Alltag bedeutet. 33,2 Prozent der Bevölkerung Baden-Württembergs verneinten die Aussage: „Ich treffe mich wenigstens einmal im Monat mit Freundinnen und Freunden oder Verwandten, um gemeinsam etwas zu trinken oder zu essen“. Dies bedeutet zwar nicht, dass ein Drittel der Bevölkerung von sozialer Ernährungsarmut betroffen sein muss, aber wahrscheinlich können sich viele die soziale Teilhabe, die ein Restaurantbesuch ermöglicht, finanziell nicht leisten. Folge ist zunehmende Isolation, die zu psychischen Krisen wie Depression führen kann. Der Ökonom Achim Spiller nannte es auf dem 7. Bonner BZfE-Forum https://www.bzfe.de/ernaehrung-im-fokus/nachlese/bzfe-forum-ernaehrungsarmut“schädlich, wenn wir auf Dauer allein essen“, seiner Ansicht nach ist es problematisch, wenn im Bürgergeld keine Mittel für einen Café-Besuch und Ähnliches bereitgestellt werden.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband stellte noch zur Zeit von Hartz-4 die soziale Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten fest, die prekären Bedingungen haben sich auch für Bürgergeld-Empfänger nicht wesentlich verbessert: https://www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/warum-nur-satt-zu-sein-nicht-reicht-ueber-ernaehrungsarmut-in-deutschland.

Gemeinsame Mahlzeiten erfüllen nicht nur den Zweck Nahrung und Energie aufzunehmen, sondern sie sind zugleich ein wichtiger Faktor der sozialen Teilhabe. Einkommensarmen Menschen stehen aber in einer durchkommerzialisierten Gesellschaft kaum noch soziale Orte für gemeinsame Mahlzeiten offen, die kein Geld kosten. Nach der Auffassung der Bundesregierung sind Ausgaben für auswärtige Mahlzeiten für Hartz-IV-Beziehende sowieso ein unnötiger Luxus. Folgerichtig werden entsprechende Ausgaben bei der Ermittlung der Leistungen nicht berücksichtigt. In der Regelbedarfsermittlung durch die Bundesregierung wird der „Warenwert“ von auswärtiger Ernährung ermittelt und beim Bedarf zugerechnet; sprich: Ein*e Hartz-IV- Beziehende *r soll also zu Hause bleiben und sich dort verköstigen – und zwar regelmäßig.

1EU-SILC = European Union Statistics on Income and Living Conditions

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