Liebe Interessierte,
wir müssen nicht extra darauf aufmerksam machen, alle, die diesen Newsletter lesen, dürften es bemerkt haben: Die derzeitige Fußball-WM dreht sich vergleichsweise wenig um Fußball, dafür aber viel um den Austragungsort Katar.
Korruptionsvorwürfe, Menschenrechtsverletzungen und ein genereller Mangel an Freiheitsrechten stehen dabei im Vordergrund. Das alles mag stimmen. Aber stimmt die Debatte? Wo liegt ihr Fokus und wovon lenkt sie ab?
Sicher ist: Fragen zu Katar werden aus westlichem Blickwinkel gestellt – und meist schnell beantwortet ohne je die Perspektive zu wechseln. Dabei hat der Perspektivwechsel einiges zu bieten: Hier ein Text von einer jungen katarischen Autorin – geschrieben schon vor der WM, aber immer noch lesenswert: https://dohanews.co/dear-europe-its-time-you-practice-the-tolerance-you-preach.
Gestern erst wurde entschieden: Ab 2026 soll Deutschland verflüssigtes Erdgas aus Katar bekommen. Erdgas nehmen wird also, aber eine WM geht zu weit? Und wenn wir ausführlich auf die Arbeitsbedingungen von Gastarbeitern schauen, warum nicht auch auf die menschenrechtlichen Konsequenzen katarischer Außenpolitik? Sofern diese in Einklang mit NATO-Zielen steht, scheint sie kein Thema zu sein.
Nun kann man verschiedene Blickwinkel auf den Krieg in Syrien haben und wird dementsprechend auch die deutsche Berichterstattung dazu unterschiedlich beurteilen. Dass aber die Frage nach Katars Außenpolitik und seiner Rolle in Syrien kaum thematisiert wird, während andere Themen extrem viel Aufmerksamkeit bekommen, wirft dennoch Fragen auf:
https://www.hintergrund.de/politik/welt/wm-gastgeber-katar-und-die-grosse-medienheuchelei.
Eine, die Katar aus jahrelanger eigener Erfahrung kennt, ist die Journalistin Stephanie Doetzer, die dort für Al Jazeera und als freie Autorin für DLF, die Berliner Zeitung und die FAS gearbeitet hat. Dass es möglich ist, über Katar zu sprechen, ohne zu beschönigen, aber auch ohne anzuklagen, zeigt ihr folgendes Interview aus den Nürnberger Nachrichten vom 17.11.:
Viele in Deutschland wollen die WM boykottieren – indem sie keine Spiele im Fernsehen schauen. Was halten Sie davon?
Dass viele Fussballfans keine Lust auf die WM haben, kann ich verstehen. Auch, dass man sich über die FIFA empört und sagt: Jetzt reicht es uns mit den korrupten Fussballfunktionären! Was den Boykott-Aufruf betrifft, frage ich mich allerdings: Wer hat denn etwas davon? Die Bauarbeiter in Katar jedenfalls nicht.
Kann man nicht sagen: Wer schaut, macht mit?
Ich bin in Katar vielen Gastarbeitern aus Indien, Nepal und den Philippinen begegnet. Die würden nicht verstehen, warum ihre Arbeit nicht gewürdigt wird. Jetzt haben sie mit ihren Händen und ihrer Schufterei diese Stadien gebaut – also soll die Welt sie auch sehen. Die Logik ist eine völlig andere als der europäische Blick von außen.
Ist die Situation der Gastarbeiter nicht so schlimm wie oft dargestellt?
Doch, die ist teilweise wirklich katastrophal. Wenn ich mit Gastarbeitern gesprochen habe, war ich oft schockiert, wie verschreckt, wie müde, wie hungrig sie waren. Und trotzdem kommt von fast allen der Satz: „Ich bin froh, dass ich diese Arbeit habe. Zuhause hätte ich gar nichts.“ Ich habe in Katar vieles als himmelschreiend ungerecht erlebt. Aber ich bin mir sehr bewusst: Katar ist ein Abbild der Welt. Es ist ein Mikrokosmos, in dem die Ungerechtigkeiten und Widersprüche der Welt sichtbarer sind als in Deutschland. Wenn wir in Europa billige Lebensmittel oder Kleidung aus Bangladesch kaufen, hängen auch wir in den Mechanismen der Ausbeutung mit drin. Wir sehen es nur nicht.
Auf die Frage nach dem katarischen Blick auf die WM erfährt man:
Die meisten sind stolz, dass erstmals ein arabisches Land ein so großes Sportereignis austragen darf. Aber es gibt auch viel Skepsis gegenüber den gigantischen Veränderungen im Land. Viele sagen: „Ihr Europäer könnt euch gar nicht vorstellen, was das bedeutet, in so kurzer Zeit einen solchen Wandel mitzumachen.“ Katar will es allen recht machen und bekommt gleichzeitig Kritik von allen Seiten. In islamischen Ländern heißt es: Die machen alles, was westliche Länder fordern und verkaufen ihre Seele! In Europa dagegen heißt es: Was für ein stockkonservatives Land! Ich kann verstehen, dass die Kataris sich sagen: Wir machen jetzt einfach unser Ding und ignorieren das ganze Gerede.
Das vollständige Interview finden Sie hier: https://www.nn.de/politik/viele-kataris-sagen-wir-machen-einfach-unser-ding-1.12729488.
Wer mehr aus katarischen Innenperspektiven erfahren möchte, ist herzlich eingeladen ins Terzo Mondo zu Berlin am 7.12. um 20:00.
Dort spricht Stephanie Doetzer über:
Katar und die Medien
Was ist Zerrbild? Was ist Realität?
Wie aber stellt sich Katar für diejenigen dar, die dort leben? Für katarische Frauen, westliche Expats, asiatische Gastarbeiter oder Hausmädchen? Sie alle machen Katar zu dem, was es heute ist, erleben aber sehr unterschiedliche Seiten des gleichen Landes. Welche Geschichten aus Katar bleiben trotz der großen Medienaufmerksamkeit nach wie vor unerzählt? Und wie werden die derzeitigen europäischen Debatten dort wahrgenommen? Zum Livestram geht es hier: https://www.terzomondo.de/event/imv-katar-in-den-medien. Der Eintritt ist frei, um Spenden wird gebeten! (s.u.)
Zur Referentin
Stephanie Doetzer arbeitete als Journalistin zwischen 2008 und 2011 in Katar und steht weiterhin in engem Kontakt zu Kollegen und Freunden in Doha. In Doha war sie Journalistin bei Al Jazeera und freie Autorin für deutsche Medien. Sie war CNN Journalist of the Year 2015 und nominiert für den deutschen Reporterpreis – und ist dann aus dem Journalismus ausgestiegen.
IMV News
Dieses ist gleichzeitig unser letzter Newsletter für das Jahr 2022, so hoffen wir. Und wir wünschen allen alles Gute für das kommende Jahr 2023! Den nächsten Monats-Newsletter gibt nach einer kleinen Pause zum Februar 2023. Wir hoffen Euch dann alle wieder gesund vorzufinden!
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Und die Arbeit dieses Jahr ist noch nicht getan…